Das empfindliche Gleichgewicht
Die Erde lebt: Jede Pflanze, jedes Tier, jedes Bakterium und jeder Pilz erfüllt eine Aufgabe in einem empfindlichen Gleichgewicht, das wir unsere Umwelt nennen. Der gesamte Globus teilt sich dabei in verschiedene regionale Ökosysteme, die eine individuelle Zusammensetzung aus Pflanzen und Tieren aufweisen, welche sich im Lauf der Zeit perfekt aufeinander eingespielt haben. Doch was passiert, wenn das Gleichgewicht gestört wird?
Das Ökosystem
Der Biologe versteht unter einem Ökosystem das »Wirkungsgefüge zwischen verschiedenen Organismenarten und ihrem Lebensraum« (Wehner). Vereinfacht gesagt ist es die Verbindung zwischen den Lebewesen untereinander und zu ihrer unbelebten Umwelt. Zu dieser gehören neben dem Klima auch die Bodenbeschaffenheit und -zusammensetzung. Durch die verschiedenen Klimazonen und die vielfältigen landschaftlichen Gegebenheiten ist die Anzahl an Ökosystemen auf unserem Planeten enorm. Tropische Regenwälder bilden Ökosysteme – genauso wie Tundren, Wüsten oder die einheimischen Wälder. Jedes Gebiet der Erde lebt, von den trockensten Wüsten bis in die tiefsten Meere. Die Bewohner und ihre unbelebte Umwelt beeinflussen sich dabei gegenseitig und tragen zur Entwicklung des jeweils anderen bei.
Die Nahrungskette
Die auffälligste Verbindung der Lebewesen untereinander ist die sogenannte Nahrungskette. Am Anfang einer Nahrungskette stehen immer Produzenten, in der Regel grüne Pflanzen, die aus Nährstoffen der unbelebten Natur unter Einwirkung von Sonnenlicht organisches Material herstellen. Sie werden von Pflanzenfressern, Konsumenten erster Ordnung, gefressen. Dieser wird dann von einem Konsumenten zweiter Ordnung erbeutet und gefressen. Je mehr Stufen zwischen Pflanze und dem jeweiligen Konsumenten stehen, desto höher ist die Ordnung des Konsumenten. Die Überreste von Lebewesen, die nicht von Konsumenten aufgenommen werden, sowie Kot, Fell und Ähnliches, werden von Destruenten wieder in anorganische Materie umgewandelt. Diese steht erneut den Produzenten zur Verfügung.
Das System der Nahrungskette ist für lineare Beziehungen entworfen worden, die Realität ist aber viel komplexer. Beispielsweise kann ein Allesfresser, der sowohl Pflanzenmaterial als auch Tiere frisst, nicht eindeutig als Konsument erster oder zweiter Ordnung bezeichnet werden. Tatsächlich handelt es sich eher um ein Nahrungsnetz, das schlussendlich aus diversen Nahrungsketten besteht.
Der direkte Einfluss des Menschen
Die dem Menschen wohl bekannteste Gefahr für ein Ökosystem ist jene, die er direkt selbst verschuldet: die Umweltverschmutzung. Müll, giftige Abfallstoffe und Smog belasten die Okösysteme, machen sie für viele Tier‐ und Pflanzenarten unbewohnbar und zerstören damit oft langfristig das Gleichgewicht. Der Einfluss der Schäden auf die Tier‐ und Pflanzenwelt ist sehr unterschiedlich. So haben beispielsweise Studien gezeigt, dass Vogelarten, die im radioaktiv hoch verstrahlten Gebiet um Tschernobyl leben, größer sind und weniger Erbgutschäden aufweisen als andere Lebewesen. Es wird ein Zusammenhang mit der erhöhten Glutathion‐Konzentration im Blut der Vögel vermutet, die vor Strahlenschäden schützen soll. Dies ist ein erstaunliches Ergebnis der natürlichen Selektion. Schwalben konnten sich dagegen noch nicht so gut anpassen: Selbst 28 Jahre nach dem Unglück schlüpfen noch immer missgebildete Küken.
Der Anteil des Menschen an der Zerstörung von Ökosystemen beginnt schon im Kleinen. Während viele Gemeinden sich daher bemühen, ihre Bäche und Flüsse zu renaturieren, Wildquerwege zu erhalten und die Natur in ihrer Städteplanung zu berücksichtigen, ist nicht zu leugnen, dass die Natur durch ihre Erschließung vom Menschen geschädigt wird. Allein in Deutschland befinden sich gemäß bundeseinheitlicher Inventarisierung von Arten und Lebensräumen nur 28 Prozent der untersuchten Lebensräume in einem günstigen Zustand.
Viel Schaden richtet der Mensch auch weit entfernt von der eigenen Haustür an. Durch unseren modernen Lebensstil verbrauchen wir enorme Mengen Energie, die zu einem großen Teil aus fossilen Brennstoffen gewonnen wird. Dazu kommen die Treibhausgasemissionen von Industrie und Transport sowie unter anderem von Rindern, die der Fleisch‐ und Milchproduktion dienen. Eine Kuh alleine stellt kein Problem dar, die Masse macht es. Ein in Europa verspeistes Kilogramm Rindfleisch entspricht je nach Herkunft und Haltungsart der Tiere 11,5 bis 28,5 Kilogramm CO2, ein Kilogramm Schweinefleisch aus konventioneller Haltung 4,5 Kilogramm CO2. Zum Vergleich: Ein durchschnittlicher, benzinbetriebener Kleinwagen gibt 14,2 Kilogramm auf 100 Kilometern Fahrstrecke ab, also in etwa die gleiche Menge. 2011 wurden allein in der Schweiz 199 820 Tonnen Schweinefleisch und 90 556 Tonnen Rindfleisch verzehrt. Das ergibt, ausgehend vom niedrigsten CO2‐Wert für Rindfleisch, 1 940 584 Tonnen CO2 des weltweiten Ausstoßes von 49 Gigatonnen – allein für den Fleischkonsum eines kleinen, europäischen Landes mit knapp 8 Millionen Einwohnern. Kalbfleisch, Geflügel und das Fleisch anderer Arten wurde nicht mit einberechnet.
Außerdem ist die Ernährung dieser Rindermassen mit sojahaltigem Kraftfutter für die Zerstörung der Regenwälder mitverantwortlich: Für den Sojaanbau werden Regenwaldflächen abgeholzt. 80 Prozent der weltweiten Sojaernte wird zu Futtermitteln verarbeitet, 15 Prozent zu Speiseöl und nur 3 Prozent zu Lebensmitteln wie Tofu oder Sojadrinks. Es wird geschätzt, dass bis 2020 die fünffache Fläche der Schweiz an Regenwald und Savanne für die weltweite Sojaproduktion weichen muss.
Zusätzlich beschleunigen der Markt für tropisches Holz, die Plantagenwirtschaft oder einfach nur die Platzschaffung für eine wachsende Bevölkerung die Regenwaldzerstörung. Es wird geschätzt, dass pro Minute eine Fläche von 35 Fußballfeldern an Regenwald abgeholzt wird. Damit zerstört der Mensch nicht nur Ökosysteme in den artenreichsten Gebieten der Erde, er trägt außerdem noch zum Klimawandel bei. Schließlich entnehmen die »grünen Lungen« unseres Planeten der Atmosphäre das Treibhausgas Kohlenstoffdioxid. Wir müssen uns bewusst sein, dass viele unserer Entscheidungen, vor allem die, die den Konsum betreffen, weitreichende Folgen haben – auch am anderen Ende der Welt. Wenn wir unseren Planeten retten wollen, so müssen wir anfangen, uns zu informieren und bewusst zu konsumieren. Allein die Verwendung von Nahrungsmitteln und Holz aus nachhaltiger Land‐ und Forstwirtschaft sowie der Verzicht auf Palmöl kann Lebensräume erhalten.
Der Einfluss von Tieren und Pflanzen
Neben dem Menschen können auch Tier‐ und Pflanzenarten beträchtliche Schäden in etablierten Ökosystemen anrichten. Als blinde Passagiere oder bewusst eingebracht stellen Arten, die sich in einem fremden Ökosystem ansiedeln (Neobiota), heutzutage eine große Gefahr für einzelne Arten und Ökosysteme dar. Zwar ist die Ausbreitung in neue, angrenzende Lebensräume natürlich und hat in der Erdgeschichte schon unzählige Male stattgefunden, jedoch verbreiten sich die Arten heutzutage über deutlich größere Distanzen und eigentlich unüberwindbare Barrieren, indem sie menschengeschaffene Transportmittel und -wege nutzen.
Die älteste nachgewiesene Verschleppung einer Art stellt der Dingo dar. Mit den ersten Einwohnern Australiens gelangten Hunde auf den roten Kontinent und verdrängten zahlreiche einheimische Arten wie den heute ausgestorbenen Beuteltiger und den Tasmanischen Teufel. Anschließend hatten die heimischen Arten aber hunderte von Jahren Zeit, sich an die neue Situation zu gewöhnen und ein neues Gleichgewicht herzustellen – bis der Inselkontinent neu entdeckt wurde. Seither wurden durch den Menschen erneut diverse Tiere eingeführt, einige bewusst ausgewildert, andere entwischten und verwilderten. Infolgedessen sind heutzutage Kaninchen, Kamele und Füchse auf Australien genauso heimisch wie Kängurus, Koalas und Wombats. Doch die neuen Arten sind erhebliche Konkurrenten für die ursprüngliche Fauna, sodass nun versucht wird, sie wieder auszurotten. Dazu wurde beispielsweise versucht, die Kaninchen mit Myxomatose, der sogenannten Hasenpest, zu infizieren. 900 Millionen Tiere verendeten, 100 Millionen überlebten – und entwickelten eine Resistenz gegen das Virus.
Doch selbst vor unserer Haustür finden wir eingewanderte Arten, die den einheimischen das Leben schwer machen. Besondere Aufmerksamkeit erregt dabei das Grauhörnchen, welches das in Europa heimische rote Eichhörnchen immer mehr verdrängt. Es ist in Bezug auf die Nahrung robuster und weniger wählerisch. Zusätzlich haben Grauhörnchen das Parapoxvirus eingeschleppt, an dem viele rote Eichhörnchen zugrunde gehen. In Großbritannien wird deshalb Jagd auf die grauen Hörnchen gemacht. Inwiefern dieser Rettungsversuch erfolgreich sein wird und ob den kontinentaleuropäischen Eichhörnchen auf ähnliche Weise geholfen werden kann, wird sich zeigen.
Nicht immer müssen Tiere getötet werden, um ihre weitere Verbreitung zu verhindern: In der Eifel wurden zum Beispiel Kanadische Biber eingefangen, kastriert und wieder ausgewildert. Und nicht immer schaden neue Arten anderen. So ist die Mandarinente als ein neutraler Neuankömmling in der hiesigen Fauna zu bewerten, da sie eine unbesetzte Nische gefunden und besetzt hat und andere Arten nicht negativ beeinflusst.
Bewusste Ansiedlung von Arten als Rettungsmaßnahme
Neobiota können in geschädigten Ökosystemen positiven Einfluss haben. So besiedeln neue Pflanzenarten als Pioniere unbewachsene Hanglagen und schützen diese vor Erosionen. Auf neu entstandenen vulkanischen Inseln siedeln sich der Definition nach zuerst Neobiota an, um nach und nach ein ganz individuelles Ökosystem aufzubauen. Ebenso kann sich der Mensch den positiven Einfluss der Ansiedlung von Arten in Gebieten, in denen sie nicht (mehr) vorkommen, zu Nutze machen, um die Fehler, die er in früheren Jahren gemacht hat, wiedergutzumachen und das Gleichgewicht im Ökosystem erneut zu stabilisieren. Am sinnvollsten sind Wiederansiedlungsprojekte von lokal ausgestorbenen Arten, wie es beim Bartgeier derzeit erfolgreich versucht wird. Aber nicht immer konnte der Mensch rechtzeitig seine Schäden realisieren und Arten retten. Gegen 1800 wurde die endemischen Riesenschildkröte auf Mauritius (Gattung Cylindraspis) ausgerottet. Zusätzlich begingen die Einwohner dort Raubbau am Ebenholz Diospyros egrettarum – eine Laubbaumart, die große Teile der Insel bedeckte. Als diese Art kurz vor dem Aussterben stand, wurden die Rodungen gestoppt, jedoch regenerierte sich der Bestand selbst nach 30 Jahren nicht. Abhilfe schaffte im Jahre 2000 die Ansiedlung der Aldabra‐Riesenschildkröte (Aldabrachelys gigantea) als Ersatzart für die ausgerotteten Riesenschildkröten, da sich beide Arten in der Ernährung ähnelten. Das Ebenholz ist in seiner Vermehrung auf die Schildkröte angewiesen, welche die Samen frisst und mit dem Kot keimreif wieder ausscheidet – häufig deutlich entfernt vom Aufnahmeort, sodass sie zusätzlich die Verbreitung der Art unterstützt. Da es sich um eine langsam wachsende Baumart handelt, ist ein Erfolg noch nicht hundertprozentig abzusehen. Es besteht allerdings Hoffnung, dass das Neozoon Aldabra‐Riesenschildkröte das Ebenholz und damit das Ökosystem auf Mauritius rettet.
Aber nicht alle Arten können ersetzt werden: Viele haben im Laufe der Evolution so spezielle Nischen eingenommen, dass es keine ausreichend ähnliche Art gibt. Daher ist es umso wichtiger, dafür Sorge zu tragen, dass die Ökosysteme stabil bleiben und keine weiteren Arten durch menschliches Zutun ausgerottet werden.
Autor: Alex S.
Bilder: Alex S. (Flussufer), Alex S. (Rinder),
Carina T. (rotes Eichhörnchen), Johanna G. (Mandarinentenerpel)
erschienen in TierZeit Ausgabe 9
24. August 2014
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